Es ist noch nicht mal ein Jahr her, dass das Berliner Quintett Seyr sein Debütalbum Flux veröffentlicht hat. Die Arbeiten daran hatten damals etwas länger gedauert, u. a. deswegen, weil Sebastian bei den ersten Aufnahmen noch gar nicht in der Band war. Hier hat sich aber definitiv ein Team gefunden, bei dem alle den gleichen Fokus und die gleichen Ziele haben und vor allem auch eine gehörige Portion an Kreativität mitbringen. Während ich manchmal eine gefühlte Ewigkeit an Artikeln für SYLB sitze, gibt es von Seyr schon wieder was Neues für die Ohren. 27 Million ist im Grunde ein ungefähr 16 Minuten langer Song, den die Jungs aber in zwei Singles gesplittet haben. Zum ersten Track Opaque haben sie am 09.06. ein Playthrough-Video veröffentlicht, Tide Of Mourn erschien am 23.06.
Wer Seyr noch nicht kennt, dürfte im musikalischen Irrgarten, den die Jungs mal wieder aufgebaut haben, im ungefähr einminütigen Intro gleich mal falsch abbiegen. Sehr ruhig, fast schon entspannt, eröffnen Seyr nämlich die EP. Aber fast so, wie der Teufel in alten Gruselfilmen plötzlich Besitz von einer Person ergreift und dann auch aus dieser Person spricht, legt das Quintett dann gleich mal die erste Progressive Death-Fährte aus. Ich weiß mal wieder nicht, was ich mehr bewundern soll: die Instrumentenfraktion, der man ja in dem Playthrough-Video sehr genau auf die Finger schauen kann, oder die “Gesangsakrobatik”, die Sebastian mal wieder vollführt. Wie der zwischen Clean Vocals, fast schon opernhaftem Bariton-Gesang und fiesen Growls hin- und her wechselt, ist echt bemerkenswert. Und wenn ich die Namen der Spieltechniken der Saitenfraktion kennen würde, könnte ich hier auch noch eine lange Aufzählung hinschreiben. So sitze ich dann aber beim Anschauen des Playthrough-Videos mit offenem Mund vorm Bildschirm und bewundere, was die drei mit den Saiten ihrer Instrumente anstellen. Und natürlich sei auch Levin erwähnt, der an meinem Lieblingsinstrument sitzt und unnachgiebig jeden Taktwechsel vorgibt. Davon spendieren Seyr dem Song/den Songs ja wieder einige.
Das sehr ruhige Intro greifen Seyr im Interlude auf, aber wer die ersten Minuten, die Opaque gehörten, schon hinter sich gebracht hat, weiß natürlich, dass die Ruhe nicht lange anhalten wird. Am Horizont türmen sich schon die Wolken auf, die die nächsten musikalischen Ausbrüche ankündigen. Der Übergang ist hier nicht ganz so abrupt, und der zweite Teil von 27 Million, also Tide Of Mourn, kommt auch insgesamt ruhiger, wenn auch nicht weniger intensiv und unter die Haut gehend, daher (wenn man bei Seyr überhaupt von “ruhiger” sprechen kann). Hier gibt’s dann auch so etwas ähnliches wie einen Breakdown, und ich habe das Gefühl, Seyr haben mich ins Moor geschmissen, aus dem ich verzweifelt versuche, wieder rauszukommen.
Dem sehr ruhigen Outro spendieren Seyr dann ungefähr dreieinhalb Minuten. Streckenweise überlege ich, ob das schöne Gitarrenspiel eher zufällig entstanden ist, aber davon ist bei den Meistern der progressiven Töne wohl eher nicht auszugehen. Mich freut es aber, dass auch hier noch einmal das Schlagzeug zum Einsatz kommt, das dem recht gechillten Gitarrenspiel aber fast noch einmal einen bedrohlich klingenden Unterton verpasst. Zumindest unterbricht es immer wieder die relaxte Stimmung, die sich eigentlich ausbreiten könnte.
Leider gibt es außer dem Album nichts, was man sich von dem Quartett anhören kann. Allerdings kommt "Smell Your Soul" mit 13 Tracks daher, die für eine Spielzeit von knapp 50 Minuten sorgen.